I. Haas: Leben im Kollegiatstift St. Blasii in Braunschweig

Cover
Titel
Leben im Kollegiatstift St. Blasii in Braunschweig. Die liturgischen Stiftungen und ihre Bedeutung für Gottesdienst und Wirtschaft


Autor(en)
Haas, Irmgard
Reihe
Braunschweiger Werkstücke, Reihe A, Veröffentlichungen aus dem Stadtarchiv 54
Erschienen
Braunschweig 2011: E. Appelhans Verlag
Anzahl Seiten
536 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Tillmann Lohse, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Als Peter Moraw vor fast einem Vierteljahrhundert programmatisch erklärte, die mittelalterlichen Stiftskirchen fortan als „Stätte[n] der Begegnung von Kirche und Welt“ erforschen zu wollen, begründete er dies in erster Linie mit der zur Verfügung stehenden Überlieferung. Für die von ihm ins Auge gefasste „Kernfrage“ sei die Quellensituation nämlich „erheblich günstiger als für die klassischen Fragen nach dem inneren religiösen Leben und nach wesentlichen Teilen der älteren Stiftsverfassung“.1 Moraws forschungsstrategische Neuausrichtung hat den Gang der Stiftskirchenforschung in Deutschland seither maßgeblich geprägt. Das Stift als ‚Begegnungsstätte‘ avancierte zu einer oft und gern zitierten Wendung, zahlreiche Studien vermochten mit Hilfe dieses innovativen Ansatzes reiche Ernte einzufahren. Und doch verstummten die Stimmen derjenigen nie, die mahnten, das Innenleben und die Selbstorganisation der Stiftskirchen als zentrale Themenfelder der Stiftsforschung nicht aus den Augen zu verlieren.2

In ihrer Hannoveraner Dissertation von 2007 führt Irmgard Haas nun eindrucksvoll vor Augen, dass die Untersuchung der ‚inneren Geschichte‘ eines Kollegiatstifts keineswegs zwangsläufig an einer dürftigen Quellenlage scheitern muss. Denn für ihre Fallstudie über das Braunschweiger Welfen-Stift St. Blasii standen ihr weit mehr als 3.000 Urkunden, 64 liturgische Handschriften (darunter drei Memorienverzeichnisse), fast ebenso viele Amtsbücher und rund zwei Dutzend Rechnungsserien mit ganz unterschiedlichen Laufzeiten zur Verfügung (S. 36–64 und 69–71 sowie die vorzüglichen Abbildungen auf S. 414–441). Haas hat aber nicht nur ein in puncto Überlieferungssituation besonders geeignetes Fallbeispiel ausgesucht. Indem sie sich selbst die Aufgabe stellte, das „‚innere Leben‘ an einem Kollegiatstift im Spiegel der liturgischen Stiftungen“ zu untersuchen (S. 19), hat sie auch methodisch den richtigen Ansatzpunkt gewählt, um das reichlich vorhandene Quellenmaterial für ihre Zwecke zum Sprechen zu bringen. Denn so wie der feierliche Gottesdienst bei aller weltlichen Indienstnahme seit alters her die Hauptaufgabe der Kanoniker bildete, so waren es vor allem die bei allen Kollegiatstiften unablässig errichteten Stiftungen, die einerseits mit ihren vielen kleinen Vorschriften und Remunerationen die Erfüllung der liturgischen Verpflichtungen im Laufe des Mittelalters immer stärker prägten und die andererseits mit ihren administrativen Folgeerscheinungen ein nicht zu unterschätzendes Movens der innerstiftischen Verfassungsentwicklung darstellten.

In einer bewundernswerten Kärrnerarbeit ermittelt Haas zunächst sämtliche Stiftungen, die vom 11. bis 16. Jahrhundert bei den Kanonikern von St. Blasius errichtet wurden, und skizziert dabei en passant die soziale Stellung der Stifter, den sukzessive anwachsenden Kreis der Destinatäre, den Umfang der jeweils bereitgestellten Dotationen sowie die Höhe der jährlichen Stiftungserträge (S. 69–250). Eine Gesamtzahl der errichteten Stiftungen wird zwar nirgends genannt, summiert man jedoch die für einzelne Stiftungstypen angegebenen Werte, ergibt sich eine Summe von mehr als 400 (S. 403). Die folgenden Kapitel kontextualisieren das Stiftungshandeln dann in vierfacher Hinsicht. Sie erörtern den äußeren Rahmen des Stiftungsvollzugs (Kirchenraum, Akteure, Gewandung, Orgeln, Glocken), die Liturgie der einzelnen Stiftungstypen (Memorien, Feste, besondere Gesänge), den frömmigkeitsgeschichtlichen Hintergrund der einzelnen Feststiftungen sowie die Stiftungen als Teil der Stiftswirtschaft (S. 251–306, 307–320, 321–361 und 363–402). Haas’ Ausführungen zeugen dabei durchweg von einer intimen Kenntnis des herangezogenen Quellenmaterials. Zu einer ‚inneren Geschichte‘ des Braunschweiger Blasius-Stifts wollen sie sich dennoch nicht recht fügen. Das hat vor allem zwei Gründe:

Erstens gliedert Haas den Stoff viel zu schematisch, nämlich zunächst systematisch nach liturgischen Gesichtspunkten und dann – eine Ebene tiefer – noch einmal chronologisch nach dem Zeitpunkt der Stiftungserrichtung. Dies hat zur Folge, dass dem Leser im Laufe des Buches zahlreiche, unverbunden nebeneinander stehende Durchgänge durch die Stiftsgeschichte zugemutet werden. Zwar hat Haas einen imaginären Kalender der Memorien- und Feststiftungen für das Jahr 1558/59 zusammengestellt, der alle bis zum Ende des Untersuchungszeitraums aufgelaufenen Stiftungen in kalendarischer Ordnung zusammenfasst (S. 502–511). Diese Synthese-Leistung wird allerdings nur ganz knapp und oberflächlich besprochen (S. 249f.). Dabei hätte gerade der diachronische Vergleich mit früheren ‚Zwischenständen‘ des Braunschweiger Stiftungskonglomerats die einzelnen Stränge der Untersuchung zu einem Gesamtbild zusammenführen können. Um die tatsächliche Bedeutung des Stiftungswesen für den Alltag der (residenten) Stiftsmitglieder herauszuarbeiten, wäre es zudem hilfreich gewesen, die strukturgeschichtliche Perspektive durch mikrogeschichtliche Fallstudien zu einzelnen Kanonikern und Vikaren zu ergänzen, agierten diese doch im späteren Mittelalter in der Regel in Personalunion als Errichter, Verwalter und Begünstigte unterschiedlichster Stiftungen. Mit ein wenig Aufwand lassen sich solche Zusammenhänge allerdings anhand des umfangreichen Personen-, Orts- und Sachregisters problemlos ermitteln (vgl. etwa S. 532 s. v. Sonneberg, Konrad).

Zweitens werden die ökonomischen und vor allem die (satzungs-)rechtlichen Effekte des Stiftungswesens von St. Blasii nicht deutlich genug herausgearbeitet. Zwar schildert Haas sehr anschaulich, wie man die Stiftungskapitalien auf dem städtischen Rentenmarkt investierte (S. 367–382) oder die Auszahlung der Präsenzgelder praktisch bewältigte (S. 401f.). Welchen Anteil die Stiftungswirtschaft an der Stiftswirtschaft im Ganzen hatte, bleibt jedoch ebenso unklar wie die üblichen Routen der stiftsinternen Geldströme, die vielleicht am besten in Form von Schaubildern visualisiert worden wären. Völlig unterbelichtet bleibt ferner, welchen Einfluss der durch die Administration so vieler Stiftungen hervorgerufene Regelungsbedarf auf die Verfassungsentwicklung des Stiftskapitels als Korporation hatte.

Obgleich Haas ihr ehrgeizig gestecktes Ziel somit nicht erreichen kann und stattdessen – wie auch andere neuere Stiftkirchen-Dissertationen3 – immer wieder parataktisch Daten und Fakten anhäuft, ist das vorgelegte Buch doch eine stiftungsgeschichtliche Fundgrube par excellence. Aus der Fülle der behandelten Stiftungsprojekte seien hier nur zwei besonders spektakuläre erwähnt: 1484 dotierte der Kanoniker Gerd Arndes eine memoria benefactorum, an deren kollektivem Totengedenken fortan ein/e jede/r partizipieren sollte, die/der das vorhandene Grundstockvermögen durch eine Zustiftung erhöhte und sei sie auch noch so gering (vgl. S. 241–248). Und 1644, also fast hundert Jahre nach der Reformation des Stifts, überwies der Dekan Valentin Möller 1.000 Reichstaler an die Fabrik des Stifts, um „damit, wie bei den Stiften gebräuchlich, eine anniversariam und gedechtnuß für sich und seine Gattin zu stiften“ (S. 170). Ein besonderes Verdienst von Haas ist schließlich, dass sie die Fest- und Gesangstiftungen, die bislang aus forschungsgeschichtlichen Gründen fast völlig im Schatten der Gedenkstiftungen standen4, konsequent als eigenständige Stiftungstypen profiliert hat (S. 109–129 und 175–241). Welche Bedeutung gerade diesen Stiftungen für die ‚innere Geschichte‘ der mittelalterlichen Chorherrengemeinschaften zukam, bleibt jedoch eine offene Frage, der die zukünftige Forschung auch bei anderen Kanonikerinstituten einmal nachgehen sollte.

Anmerkungen:
1 Peter Moraw, Über Typologie, Chronologie und Geographie der Stiftskirche im deutschen Mittelalter, in: Max-Planck-Institut für Geschichte (Hrsg.), Untersuchungen zu Kloster und Stift, Göttingen 1980, S. 9–37, hier S. 11.
2 Vgl. etwa Oliver Auge, Südwestdeutsche Stiftskirchen im herrschaftlichen Kontext: Ansätze und Perspektiven der Forschung, in: Sönke Lorenz / ders. (Hrsg.), Die Stiftskirche in Südwestdeutschland. Aufgaben und Perspektiven der Forschung, Leinfelden-Echterdingen 2003, S. 171–198, hier S. 187, unter Bezug auf ältere Aufsätze von Guy P. Marchal und Michael Borgolte.
3 Ein extremes Beispiel ist: Andreas Jakob, Das Kollegiatstift bei St. Martin in Forchheim. Grundlagen zur Geschichte von Stift und Pfarrei in der zweiten Hauptstadt des Hochstifts Bamberg 1354–1803, Bamberg 1998. Vgl. aber auch Markus Anhalt, Das Kollegiatstift St. Georgen in Altenburg auf dem Schloss 1413–1537. Ein Beitrag zur Stiftsforschung, Leipzig 2004; Ulrike Siewert, Das Bamberger Kollegiatstift St. Stephan. Säkularkanoniker in einer mittelalterlichen Bischofsstadt, Bamberg 2007.
4 Vgl. Michael Borgolte, Memoria. Zwischenbilanz eines Mittelalterprojekts, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 46 (1998), S. 193–210; Wolfgang Eric Wagner, Stiftungen des Mittelalters in sozialhistorischer Perspektive. Über neuere deutsche Forschungen, in: Annali dell’Istituto storico italo-germanico in Trento 27 (2001), S. 639–655.